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Der Stammtisch für Kluge

Zuhörer lauschen einer Präsentation
Drei Präsentationen sollen den Bürgerinnen und Bürgern den Inhalt der Abstimmung vermitteln. swissinfo.ch

Ein Verein von jungen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen organisiert einen modernen Stammtisch, wo sich Bürgerinnen und Bürger über ein aktuelles Abstimmungsthema austauschen können. Funktioniert das im urbanen Zürich? Ein Augenschein.

Sich bei einem Bier mit Bekannten treffen und über die nächste Abstimmung debattieren – das tönt nach Stammtisch, wie er vor allem in ländlichen Gegenden lange beliebt war und in urbaneren Gefilden inzwischen geradezu in Verruf geraten ist.

Doch hier im eleganten Erkerraum des Zentrums “Karl der GrosseExterner Link” in der Zürcher Altstadt werden keine derben Witze gemacht, Schenkel geklopft oder der Serviertochter auf den Hintern gestarrt: An der “Abstimm-Bar” geht es eher zu und her wie an einem universitären Kolloquium. Zu Beginn gibt es denn auch ein bisschen “Frontalunterricht”, wie die Organisatoren von DemocracyNet.euExterner Link entschuldigend sagen.

Mit einer Powerpoint-Präsentation erklärt der Wirtschaftsdoktorand Fabio CanetgExterner Link den Inhalt der Vollgeld-Initiative, eine komplizierte Vorlage, über die das Schweizer Stimmvolk am 10. Juni abstimmen wird. Kurz gesagt will die Volksinitiative “Für krisensicheres Geld: Geldschöpfung allein durch die Nationalbank! (Vollgeld-Initiative)Externer Link“, dass nur noch die Schweizerische Nationalbank (SNB) Geld schaffen darf, die Geschäftsbanken hingegen nicht mehr. Zudem soll die SNB Geld “schuldfrei” in Umlauf bringen, also ohne Gegenleistung, indem sie es direkt an den Bund, die Kantone oder die Bevölkerung verteilt.

Mit Bier in der Hand einer Vorlesung lauschen

Das ist schwer verdauliche Materie. Trotzdem hört das Publikum aufmerksam zu und stellt Fragen. Auch bei den anschliessenden Präsentationen der Pro-Argumente (durch Maurizio DegiacomiExterner Link, Presseverantwortlicher der Vollgeld-Initiative) respektive Kontra-Argumente (durch Bettina FahrniExterner Link, Präsidentin der Jungfreisinnigen Stadt Zürich) ist das Publikum voll dabei – und hat zu einem grossen Teil offenbar schon eine Meinung. Die Organisatoren müssen zurechtweisend eingreifen, als Fahrni durch Zwischenrufe unterbrochen wird.

Die meisten Teilnehmer sind Studierende. Es sitzen aber auch ältere Personen im Publikum. Manche trinken Bier, die Senioren eher Mineralwasser. Ähnlich wie bei Gemeindeversammlungen sind Männer in der Überzahl.

Mit Fremden debattieren

Nach den Vorträgen wird das Publikum zufällig in verschiedene Gruppen eingeteilt, die sich an mehrere Tische auf der Terrasse im Innenhof verteilen. Pro Tisch gibt es einen Moderator oder eine Moderatorin, die sicherstellen, dass alle zu Wort kommen und der Ton anständig bleibt.

Menschen auf einer Terrasse
Später wird auf der Terrasse getrunken und debattiert. swissinfo.ch

Bald schon zeigt sich ein Problem: Eigentlich sind fast alle für die Vollgeld-Initiative. “Ist hier überhaupt jemand dagegen?”, fragt jemand an einem Tisch. Lauter Kopfschütteln. “Ich kann in der Debatte die Position der Gegner einnehmen”, bietet Canetg an, damit die Diskussion spannend bleibt. Er hat sich bei seiner Referat-Tour die politisch neutrale InformationExterner Link auf die Fahne geschrieben – er kennt also die Argumente beider Seiten.

Die Meinungen waren schon gemacht

Die Debatte ist intensiv – und lang. Es dämmert bereits, als die Organisatoren in die Runde fragen, wer denn nun wie stimmen werde. Ein einziger junger Mann hebt die Hand für ein Nein. Ein paar wenige wissen noch nicht, wie sie abstimmen werden, fühlen sich jetzt aber immerhin informiert.

Menschen sitzen bei Bier an Tischen
Die Stimmung ist friedlich – man ist sich erstaunlich einig. swissinfo.ch

Eine kleine Umfrage unter den Teilnehmern ergibt: Die meisten haben über Freunde (oder von der Freundin des Mitbewohners eines Freundes…usw.) von der Veranstaltung erfahren. Und: Die meisten hatten bereits eine Meinung, bevor sie an die Veranstaltung kamen, und sind in dieser lediglich bestärkt worden. Für sie ist die Abstimm-Bar eine Möglichkeit des Austausches.

“Die Abstimm-Bar ist konstruktiver als ein Stammtisch, weil die Diskussion moderiert wird”, sagt Salim BrüggemannExterner Link vom Zentrum für Demokratie Aarau. Er hat via Mailingliste seines Arbeitgebers von der Abstimm-Bar erfahren.

Politische Durchmischung

Walter Wobmann aus Zürich hat via Programm des Zentrums Karl der Grosse von der Abstimm-Bar erfahren. Bereits vor der Veranstaltung war er klarer Befürworter der Vollgeld-Initiative. “Wenn die Gegenseite gute Argumente gehabt hätte, dann hätte ich meine Meinung geändert”, sagt er. “Sie waren gut, aber nicht gut genug”, sagt er mit einem schelmischen Lachen.

Das Ungewöhnliche an Wobmann in dieser Runde ist nicht nur sein Alter (58), sondern auch seine politische Ausrichtung: Er ist Parteimitglied der Schweizer DemokratenExterner Link, einer rechtskonservativen und nationalistischen Kleinpartei. “Wir Schweizer Demokraten sind zwar wertkonservativ, aber nicht wirtschaftsliberal”, erklärt er. “Und das Initiativkomitee von der Vollgeld-Initiative ist parteipolitisch gemischt.”

Der Stammtisch als Bubble

Das Konzept der Abstimm-Bar scheint aufzugehen: In geselligem Rahmen diskutierten Studierende, Rentner und Interessierte hochkomplizierte wirtschaftliche Zusammenhänge, wägten gemeinsam Für und Wider der radikalen Währungsreform ab und beantworteten sich gegenseitig Verständnisfragen.

Zwar waren sich bei diesem Abstimmungsthema alle schaurig einig – entgegen der Prognosen hätte das Publikum der Abstimm-Bar die Vollgeld-Initiative klar angenommen. Man kann sich deshalb des Eindruckes nicht ganz erwehren, es träfen sich hier Gleichgesinnte aus einer gemeinsamen Bubble. Aber ist das letzten Endes bei einem “richtigen” Stammtisch nicht auch so?

Abstimm-Bar und Apéro Votations

DemocracyNetExterner Link ist eine Vereinigung von Demokratie-Forscherinnen und Forschern, die sich für die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft im Bereich der Demokratiefragen engagiert und öffentliche Debatten zu aktuellen politischen Themen fördern will. Das Modell der “Abstimm-Bar” respektive “Apéro VotationsExterner Link” gibt es seit September 2017. 

Das Konzept der Veranstaltungen besteht darin, das Publikum zuerst neutral über ein Abstimmungsthema zu informieren (und mit verschiedenen Rednern sowohl die Pro- und Kontraargumente einer Abstimmung zu Wort kommen zu lassen), so dass sich die Bürger und Bürgerinnen eine Meinung bilden können. Anschliessend soll das Publikum in einem entspannten Rahmen über die Abstimmung debattieren und sich austauschen. Die Abstimm-Bar wird von ehrenamtlichen Helfern organisiert. Die Teilnahme ist gratis – finanziert werden die Veranstaltungen durch freie Kollekte und Spenden.

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