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Kultureller Kontext prägt Entscheidungen am Lebensende

Da heutzutage zwei Drittel der Todesfälle absehbar sind, gilt es am Lebensende viele Entscheidungen zu treffen. Die medizinische Praxis am Lebensende unterliegt auch kulturellen Einflüssen. (Symbolbild) KEYSTONE/AP/THOMAS KIENZLE sda-ats

(Keystone-SDA) Der kulturelle Kontext prägt die Entscheidungen, die Menschen an ihrem Lebensende treffen. Dies zeigt eine Studie der Universitäten Zürich und Genf.

Heute sind fast zwei Drittel der Todesfälle in der Schweiz vorhersehbar – sei es, weil die Betroffenen an einer unheilbaren Krankheit leiden oder weil sie betagt sind. Am Lebensende müssen deshalb schwierige Entscheidungen gefällt werden. Forschende um Samia Hurst von der Uni Genf haben untersucht, wie kulturelle Unterschiede in der mehrsprachigen Schweiz diese Entscheide beeinflussen.

Es zeigte sich, dass zwar erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen bestehen. Allerdings sind diese teilweise weniger bedeutend als die Unterschiede zwischen den jeweiligen Sprachregionen und deren gleichsprachigen Nachbarländern.

Entscheid zu lebenserhaltenden Massnahmen

Sogenannte “End-of-life”-Entscheidungen wurden bei drei Viertel aller untersuchten vorhersehbaren Todesfälle getroffen, wie die Universitäten Zürich und Genf mitteilten. Hauptsächlich ging es dabei darum, lebenserhaltende Behandlungen nicht anzuwenden oder abzusetzen (70 Prozent in der Deutschschweiz, 59,8 Prozent in der Romandie und 57,4 in der italienischen Schweiz).

Beihilfe zum Suizid kam mit rund 1,5 Prozent aller zu erwartenden Todesfälle in der West- und Deutschschweiz äusserst selten vor. In der italienischen Schweiz wurde gar kein Fall gemeldet, wie die Forscher im Fachjournal “BMC Medicine” berichten.

Diese Form der Sterbehilfe, bei der sterbewillige Personen von einem Arzt eine tödliche Dosis eines Medikaments erhalten, diese aber selber einnehmen müssen, ist in der Schweiz legal. Nicht erlaubt ist hingegen aktive Sterbehilfe, bei der eine andere Person das Mittel verabreicht.

Patientenautonomie wird hochgehalten

Die Beteiligung der Patientinnen und Patienten am Entscheidungsprozess war im Tessin deutlich geringer als im Rest des Landes. Dieses Ergebnis lasse sich nicht mit objektiven klinischen Unterschieden erklären. Die Studienautoren vermuten, dass im Tessin Entscheidungen eher im Kreise der Familie gefällt werden.

“Auch wenn wir nicht in allen Landesregionen gleich sterben, sind unsere Herangehensweisen doch ähnlicher als diejenigen unserer Nachbarn”, sagt Hurst, Direktorin des Instituts für Geschichte, Ethik und Geisteswissenschaften an der Medizinischen Fakultät der Uni Genf.

Die Westschweiz gleiche in mancher Hinsicht mehr der Deutschschweiz als Frankreich. Dies passt laut der Forscherin zu der grösseren Rolle, welche die Patientenautonomie in der Schweiz spielt.

Dennoch ähneln die Unterschiede zwischen den Sprachregionen den Unterschieden zwischen Italien und Frankreich. Dies deute auf kulturelle Besonderheiten aufgrund der Sprache hin. Weil entsprechende Studien aber nur aus Frankreich und Italien, nicht aber aus Deutschland und Österreich verfügbar sind, ist ein Ländervergleich schwierig.

Wünsche frühzeitig besprechen

Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass immer mehr Menschen in der Schweiz sich der Möglichkeit bewusst seien, vorab detaillierte Verfügungen zu ihrem Lebensende zu verfassen. Allerdings tun dies nur wenige.

Es sei aber wichtig, darüber nachzudenken, welche Prioritäten man am Ende des Lebens setzen wolle, sagt Matthias Bopp vom Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Uni Zürich. “Solche Entscheidungen für das Lebensende sollten frühzeitig mit dem behandelnden Arzt besprochen werden, damit die medizinischen und technischen Aspekte sowie ihre Konsequenzen richtig verstanden werden”, so Bopp.

Um die medizinischen Entscheidungen am Lebensende im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts “End of Life” zu untersuchen, schickten die Forscher bezogen auf fast 9000 zufällig ausgewählte Todesfälle in der ganzen Schweiz einen anonymen Fragebogen an die behandelnden Ärzte. Zu insgesamt 5330 Fällen erhielten sie Angaben.

“Es ist eine Stärke unserer Studie, dass wir eine völlige Zufallsauswahl haben”, sagte Georg Bosshard von der Klinik für Geriatrie des Universitätsspitals Zürich auf Anfrage. Oft würden lediglich die Todesfälle in Spitälern und Heimen betrachtet.

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