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Wenn die Welt fiebert, bebt auch die stabile Schweiz

Porträt Claude Longchamp vor dem Bundeshaus
swissinfo.ch

Wenig gelesen hat man bis jetzt zu historischen Einordnung der Wahlen 2019. Dabei erhellt gerade ein Blick in die Geschichte die Charakteristik der jüngsten Parlamentserneuerung gut.

Das seit den 1990er-Jahren gängige Muster war die Bi-Polarisierung. SVP, SP und Grüne legte gleichzeitig oder abwechslungsweise zu. Die Pole der Parteienlandschaft entwickelten sich so nachhaltig auseinander.

Der Autor

Claude Longchamp ist einer der renommiertesten Politikwissenschafter und -analysten der Schweiz.

Er war Gründer des Forschungsinstitutes gfs.bernExterner Link, dessen Direktor er bis zu seiner Pensionierung war. Er ist nach wie vor Präsident des Verwaltungsrats. Longchamp analysierte und kommentierte während 30 Jahren Abstimmungen und Wahlen am Schweizer Fernsehen SRF. 

Für swissinfo schreibt Longchamp regelmässig zur Schweizer Politik.

Der Politikwissenschaftler und Historiker ist Autor zweier Blogs: ZoonpoliticonExterner Link über Politikwissenschaft sowie Stadtwanderer Externer Linküber Geschichte. 

Diesmal verloren sowohl SVP wie auch SP. Und dies traf auch die FDP. Einzig die CVP kam mit minimen Abgängen an Stimmen davon. An Wählendenstärke eingebüsst haben damit alle Regierungsparteien.

Elektoral zugelegt haben dagegen mit den Grünen und den Grünliberalen zwei Nicht-Regierungsparteien.

Gesamthaft waren es die volatilsten Wahlen nach Einführung des Proporzwahlrechts 1919.

Nicht-Regierungsparteien fordern heraus

Besonders krass wird dieser Gegensatz nach Altersklassen. 21 resp. 14 Prozent der unter 25-Jährigen haben diesmal für die GPS oder GLP votiert. Die vier Regierungsparteien kommen da zusammen gerade noch auf die Hälfte der Stimmen.

Umgekehrt sind die Verhältnisse dafür bei den Rentnern. Da dominieren die Regierungsparteien mit mehr als drei Viertel aller Stimmen weiterhin unangefochten.

Europäisierung der Schweizer Wahlen

Genau dieses Muster ist aus europäischer Sicht nichts Überraschendes. Auch da legen seit der globalen Finanzmarktkrise 2007/8 Oppositionsparteien zu und drängten die Parteien mit Regierungsverantwortung in die Defensive. Bei den Europawahlen 2019 verloren die regierenden Christ- und Sozialdemokraten am meisten, und es kannten europäische Zentristen, Grüne und Rechtspopulisten einen Aufschwung. 

Und auch hier: Volksparteien sind bei Jungen out, Neugründungen und erneuerte politische Gruppierungen in.  

Ganz neu ist dieses Muster für die Analyse von Wahlen selbst für die Schweiz nicht, wie ein Blick in die Wahlgeschichte zeigt. Die grössten Erschütterungen der Parteienlandschaft mit konstantem Wahlrecht waren 1935, 2011 und 2019. Über 13, 15 resp. 17 Prozent der Nationalratssitze wechselten in diesen Wahljahren die Partei, was jeweils ein Schweizer Rekord war.

Weltwirtschaftskrise und soziale Folgen

1935, bei der ersten Disruption in grossem Masse, wirkte die Weltwirtschaftskrise von 1929 nach. Sie brachte einen Rückgang der Wirtschaftsleistungen, Arbeitslosigkeit und soziale Not. Das bildete den Nährboden für neue Parteien, unter anderem den Nationalsozialisten in Deutschland. 

In der Schweiz verloren die vier grossen Parteien die Wahlen von 1935 gemeinsam. Am meisten traf es die führende FDP, gefolgt von der BGB (heute SVP) und die KVP (heute CVP). Auch die Sozialdemokraten, seit 1931 die stärkste Partei der Schweiz, wenn auch in der Opposition, waren auf der Verliererseite.

Namhafte Gewinne verbuchten dafür der neu entstandene Landesring der Unabhängigen, die bürgerlichen Freiwirtschaftler, die Jungbauern und die rechtsextremen Frontisten.

Heftig debattiert wurde in der Folge ein neues Regierungssystem. Entstanden ist der erste Schritt zur Zauberformel mit vier festen Regierungsparteien.

Abrupter Ausstieg aus der Kernenergie

Die zweite, vergleichbare Erschütterung erfolgte 2011. Auslöser war hier der Unfall im Kernreaktor im japanischen Fukushima. Sichtbar wurde, dass sich die Kernenergie überlebt hatte. Auch in der Schweiz wurde der Ausstieg aus dieser Technologie laut gefordert. Der Bundesrat übernahm die Führung im Dossier und leitete eine entsprechende Politik ein. Die Frauen im Bundesrat, erstmals mit vier in der Mehrheit, beschlossen den Ausstieg.

Im Wahlherbst 2011 kamen jedoch alle im Bundesrat vertretenen Parteien unter die Räder. Am meisten verlor wiederum die FDP, die sich in der wichtigsten Frage nicht entscheiden konnte. Am wenigstens büsste ebenso die SP ein.

Eigentliche Wahlsieger waren auch hier Newcomer: die BDP, die 2011 erstmals bei nationalen Wahlen kandidierte, und die GLP, die zum zweiten Mal antraten. Beide erreichten je mehr als 5 Prozent der Wählenden, die GLP namentlich auch viele Junge.

Unterschätzter Klimawandel

Die dritte grosse Disruption erfolgte im aktuellen Wahljahr. Spätestens mit den kantonalen Wahlen in Zürich wurde klar, dass sich unübliche Verschiebungen abzeichnen würden. Klar zulegen konnten im bevölkerungsreichsten Kanton die Grünliberalen, aber auch die Grünen. Es verloren die SVP, die FDP und die SP. 

Der Grund war offensichtlich: Denn der Protest auf der Strasse gegen die unterlassene Politik zum Klimawandel hatte im Frühling mit den Schülerstreiks- und –demonstrationen seinen ersten Höhepunkt erreicht.

Diesmal verlor die SVP in Rekordhöhe. Auch SP und FDP waren Verlierer. Gering waren die Verluste nur bei der CVP. Einen Rekordgewinn gab es dafür bei den Grünen, gefolgt von dem der Grünliberalen. Zurecht sprach man von historischen Wahlen.

Globale Erschütterungen 

Was lehrt uns das? Am Anfang aller grossen Erschütterungen der Schweizer Parteienlandschaft stehen globale Krise der Wirtschaft, der Technologie und der Umwelt. 

Sie wirken bei Schweizer Wahlen nach, weil unser Land angesichts ihrer Weltmarktorientierung kein Container ist, der sich hermetisch abriegeln lässt.

Es fällt auf, dass die Intervalle zwischen zwei Disruptionen kürzer werden. Grosse Erschütterung sind nicht mehr fast einmalige Einschnitte. Vielmehr mutieren sie zum Beinahe-Regelfall.

Das setzt insbesondere der Stabilität des politischen Systems zu. Die Parteienlandschaft ist im Umbruch. Die Repräsentation der Sozialpartner im Parlament wird kritisch hinterfragt. Das alles wird nicht ohne Folgen für das Regierungssystem bleiben. Denn die Zauberformeln für den Bundesrat sind auf Dauer angelegt, und auf eine stabile politische Landschaft mit gefestigten Parteien und akzeptierten Interessenvertretern.

Beides ist heute so wenig wie nie zuvor in den letzten 100 Jahren der Fall. Das bleibt die zentrale Herausforderung der Bewegungswahlen 2019!

 

Die Parteien mit Fraktionsstärke im Parlament

SVP: Schweizerische Volkspartei (rechtskonservativ)

SP: Sozialdemokratische Partei (links)

FDP.Die Liberalen: Freisinnig-Demokratische Partei (rechtsliberal)

CVP: Christlichdemokratische Volkspartei (Mitte/rechts)

GPS: Grüne Partei der Schweiz (links)

GLP: Grünliberale Partei (Mitte)

BDP: Bürgerlich-Demokratische Partei (Mitte)

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